In Deutschland gibt es nicht nur ein Problem mit rassistischen Demonstrationen und einem Rechtsruck in der Parteienlandschaft. Die Indizien mehren sich, dass staatliche Organe bis in Führungspositionen hinein mit Sympathisanten und Unterstützern der rechten Szene durchsetzt sind. Wenn jüngst der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz Hans-Georg Maaßen öffentlich mutmaßte, dass Videos gefälscht seien, die rassistische Übergriffe in Chemnitz zeigen, und zwar ohne Belege oder Indizien dafür vorweisen zu können, dann greift er nicht nur den Ermittlungen vor, sondern fördert aktiv rechte Propaganda. Dass Maaßen möglicher Weise die AfD dabei beraten hat, wie sie einer Überwachung durch den Verfassungsschutz entgehen kann, passt ins Bild.1
Der Fall Maaßen ist allerdings nur die Spitze des Eisbergs. Die NSU-Untersuchungsausschüsse und der Prozess gegen Beate Zschäpe haben gezeigt, dass sowohl das Bundesamt für Verfassungsschutz als auch einige Landesämter die rechte Szene durch V-Leute zu großen Teilen finanzieren, ihre Aktivitäten decken und Ermittlungen massiv behindern.2 Der Verfassungsschutz ist keineswegs auf dem rechte Auge blind, wie immer wieder gesagt wird, sondern im Gegenteil im rechtsextremen Milieu bestens informiert und aktiv. Bereits seit 1998 wusste das Bundesamt für Verfassungsschutz von der Existenz des Trios Mundlos-Böhnhardt-Zschäpe als gewaltbereiter rechtsterroristischer Gruppe. Auch das Bundeskriminalamt und das Landeskriminalamt Thüringen waren informiert und besaßen sogar eine Adressliste von Uwe Mundlos mit dem Who-is-Who der ultrarechten Szene. Ein Verhaftungsversuch des LKAwurde laut Zeugenaussagen vom Verfassungsschutz vereitelt. Im Frühjahr 2000 war das Terrornetzwerk auch dem Generalbundesanwalt bekannt.3Nicht nur haben alle diese Organe nichts dagegen unternommen, der Verfassungschutz hat sogar dabei zugesehen, wie mithilfe der eigenen V-Leute aus dem Umfeld des Trios weiter Waffen gekauft wurden.4 Wenige Monate später begann die Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“, dem zehn Menschen zum Opfer fielen.
Als die NSU dann elf Jahre später aufflog, begann der Verfassungsschutz eine monatelang andauernde Schredderung von mehr als 200 Akten, die Aufschluss über die Verstrickung des Nachrichtendienstes in die rechte Szene hätten geben können – ein Vorgang, der auf den höchsten Ebenen des Amtes mindestens bekannt, wenn nicht abgesegnet war.5In einer solchen Lage hätte die Bundesregierung sofort eine Durchsuchung des Verfassungsschutzes und einer Sicherstellung der Akten in Gang setzen müssen. Aber weder Angela Merkel noch der damalige Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) intervenierten.
Als im Jahr 2006 Halit Yozgat durch den NSU in seinem Internetcafé in Kassel ermordet wurde, war der hessische Verfassungsschutzbeamte Andreas Temme zum Tatzeitpunkt vor Ort. Als einziger Anwesender meldete er sich nicht als Zeuge. Rein zufällig sei er dort gewesen, gab er später an, von dem Schuss habe er nichts gehört, und beim Hinausgehen sei ihm der tote Yozgat, der direkt in Eingangsnähe lag, nicht aufgefallen. Trotz dieser unglaubwürdigen Behauptungen nahm ihn der damalige hessische Innenminster und heutige Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) im hessischen Parlament kurze Zeit später mit den Worten „Der Mann ist unschuldig“ in Schutz.6 Woher wollte Bouffier das wissen? Wenn er doch, wie er vorher behauptet hatte, Temme gar nicht kannte, und wenn die Ermittlungen noch gar nicht ernsthaft angelaufen waren?
Da die deutsche Justiz unwillig oder unfähig war, Licht in den Fall Temme zu bringen, beauftragte das bundesweite Aktionsbündnis „NSU-Komplex auflösen“ ein kriminalistisches Institut in London, den Ablauf zu rekonstruieren. Das Internetcafé wurde dort in Originalgröße nachgebaut. Ergebnis: Temme muss sowohl den Schuss gehört haben, als auch den Toten gesehen haben.7 Obwohl Temme mindestens der Beihilfe zum Mord verdächtig ist, wurde er nie belangt, ein Verfahren wegen Falschaussage wurde 2017 eingestellt. Warum wird ein Mann wie er bis hinauf in die höchsten politischen Ebenen geschützt und eine Aufklärung behindert?
Die Verfassungsschutzämter sind nicht die einzigen Staatsorgane, die offensichtlich ein Problem mit rechten Netzwerken haben. Der Fall Oury Jalloh zeigt auf bestürzende Weise, wie Teile von Polizei, Justiz und Politik die Aufklärung von rassistischer Gewalt behinderten. Der in Deutschland lebende, in Sierra Leone geborene Jalloh war 2005 in einer Polizeizelle in Dessau verbrannt, zwei Polizisten des Reviers stehen im Verdacht, dafür verantwortlich zu sein. Auch hier wurden wieder zahlreiche relevante Akten vernichtet.8 Ein von der Justiz in Auftrag gegebenes Brandgutachten zu dem Fall war so fehlerhaft und offensichtlich verzerrt, dass erst ein unabhängiges britisches Gutachten Klarheit darüber verschaffte, dass eine Selbsttötung Jallohs ausgeschlossen werden muss.9 Einmal mehr brauchte es den Umweg über die britischen Inseln, um der widerwilligen deutschen Justiz auf die Sprünge zu helfen. Der Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau, die daraufhin den Fall neu aufnahm, wurde allerdings prompt die Zuständigkeit wieder entzogen, das Verfahren anschließend von der Staatsanwaltschaft Halle eingestellt. Sachsen-Anhalts Justizministerin Anne-Marie Keding (CDU), weisungsbefugt gegüber der Staatsanwaltschaft, hat die Aufklärung des Falls nachhaltig behindert, indem sie entscheidende Akten dem Rechtsausschuss des Parlaments vorenthielt. Beunruhigend an all dem ist nicht nur, dass möglicherweise Polizisten einen rassistisch motivierten Mord verübten, sondern vor allem, dass sie durch ein weites Netzwerk von Ämtern, Behörden und Regierungsvertreten geschützt werden.
All das ist weit mehr als „Behördenversagen“. Wenn den rechten Netzwerken in staatlichen Institutionen weiter freie Hand gelassen wird, dann droht zumindest in Teilen dieses Landes eine schleichende Übernahme durch eine Zangenbewegung von rechts: Auf der einen Seite eine erstarkene AfD im Parlament, die irgendwann nach dem Modell Österreich mit einer nach rechts gerückten Union eine Regierungskoalition bilden könnte; zum andern eine Unterwanderung von Ämtern und Behörden. Beschwörungen von Toleranz und Rechtsstaatlichkeit helfen da nichts, sondern nur eine gründliche Entnazifizierung des Staates. Eine Abwicklung der Verfassungsschutzämter wäre ein Anfang.
Fußnoten:
1) Die AfD-Aussteigerin Franziska Schreiber hatte Anfang August eidesstattlich erklärt, Maaßen habe 2015 die damalige Parteivorsitzende Frauke Petry dabei beraten, wie die AfD einer Beobachtung durch den Verfassungschutz entgehen kann.
2) Allein der V-Mann Thomas Richter alias „Corelli“, einer der führenden Köpfe in der Neonazi-Szene Thüringens, erhielt über die Jahre knapp 300.000 Euro vom Verfassungsschutz. Vgl: WDR, 11.9.2016 www1.wdr.de/archiv/nsu/offene-fragen-corelli-100.html
3) Micha Brumlik, Hajo Funke: Auf dem Weg zum „tiefen Staat?“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2013, S. 78 f.
4) ebd.
5) ebd., S. 80
6) Taz, 19.12.2016, www.taz.de/!5365072/
7) Aktionsbündnis „NSU-Komplex auflösen: www.nsu-tribunal.de/wir. Das Institut heißt „Forensic Architecture Institute“. Vgl. Süddeutsche Zeitung 6.4.2017 www.sueddeutsche.de/politik/nsu-mord-nsu-mord-modernste-methoden-werfen-…
8) Mitteldeutsche Zeitung, 10.2.2018
9) Taz, 12.11.2013, www.taz.de/Neues-Brandgutachten-im-Fall-Jalloh/!5055138/
Titelfoto: Grüne Jugend Niedersachsen