Medien und Medienkritik in Deutschland: Die vierte Gewalt in der Krise

von Fabian Scheidler

Dieser Artikel erschien zunächst in den französischen, spanischen und portugiesischen Ausgaben der Monde diplomatique vom März 2024. Eine stark gekürte deutsche Fassung erschien in der Wochen-Taz vom 2.-8. März 2024. Die englische Fassung findet sich hier.

„Die Medienkritik verhält sich zu den Medien wie die Ornithologie zu den Vögeln: Die Vögel wollen davon nichts wissen“, sagt der deutsche Soziologe Harald Welzer. Jüngstes Beispiel dafür sind die Reaktionen auf ein Manifest von Journalisten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (ÖRR) und verschiedenen Intellektuellen. Die Autoren diagnostizieren darin eine Einschränkung der Meinungsfreiheit und fordern eine tiefgreifende Strukturreformen des ÖRR.[1] Sendeanstalten, Verbände und private Medien wiesen die Kritik im Großen und Ganzen reflexartig zurück, ohne auf die ausführliche Liste von Argumenten und Reformvorschlägen einzugehen. Der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) und die Tageszeitung Taz rückten das Manifest sogar in die rechte Ecke, obwohl es dafür keine Belege gibt.[2]

Die Reaktion ist typisch für die deutsche Medienlandschaft. Harald Welzer machte eine ähnliche Erfahrung, als er zusammen mit dem Philosophen Richard David Precht 2022 ein Buch mit dem Titel „Die vierte Gewalt. Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist“ veröffentlichte, das schnell zum Bestseller wurde. Ihr Befund: Deutsche Leitmedien würden bei Themen wie dem Ukrainekrieg zunehmend auf Meinungsmache statt auf differenzierte Berichterstattung setzen und einseitig Position beziehen. Zwischen der veröffentlichen Meinung und der tatsächlichen öffentlichen Meinung in der Bevölkerung würde eine immer größere Repräsentationslücke klaffen. Die abwertenden Kommentare zu dem Buch begannen schon vor der Veröffentlichung und das Wochenmagazin Der Stern warf den Autoren vor, dem rechten Narrativ einer angeblichen „Lügenpresse“ in die Hände zu spielen.

Viele Medienvertreter reagieren ausgesprochen dünnhäutig auf Kritik, vor allem, wenn sie grundlegender Art ist. Strukturelle Kritik, die über einzelne Skandale – etwa jüngst beim RBB – hinausgeht, wird schnell in die Nähe rechter Verschwörungsideologien gerückt, selbst wenn sie wie in diesem Fall von linksliberaler Seite kommt.

Dabei gäbe es durchaus Anlass zu einer kritischen Selbstreflektion. Eine inhaltliche und quantitative Auswertung der Beiträge von deutschen Leitmedien zum Ukrainekrieg hat etwa gezeigt, dass Politiker und Experten, die sich für die Lieferung schwerer Waffen und gegen diplomatische Initiativen aussprachen, mit Abstand die größte Präsenz in den führenden Medien hatten. Dagegen lehnte im selben Zeitraum laut Umfragen etwa die Hälfte der deutschen Bevölkerung solche Waffenlieferungen ab, mehr als die Hälfte wünschte sich mehr Diplomatie.[3] Dass nur 44 Prozent der Deutschen in Umfragen sagen, dass sie den Medien vertrauen, überrascht vor diesem Hintergrund wenig.[4] Die These von der Repräsentationslücke ließe sich daher nicht von der Hand weisen, so der Kommunikationsforscher Uwe Krüger von der Universität Leipzig.

Eine militaristische Schlagseite der deutschen Medienlandschaft sei im Übrigen kein neues Phänomen, so Krüger. Ob es sich um die völkerrechtswidrige NATO-Bombardierung Serbiens im Jahr 1999 unter Beteiligung Deutschlands handelte oder die Afghanistaneinsätze der Bundeswehr: Stets war, wie ausführliche Analysen ergeben haben, die große Mehrheit der Leitartikel in den führenden deutschen Medien dafür, während sich die Bevölkerung mehrheitlich ablehnend äußerte.[5] Nach der russischen Invasion in der Ukraine hat der mediale Druck schließlich zu einer radikalen Wende der deutschen Außenpolitik beigetragen: Die regierende Sozialdemokratische Partei gab das Erbe der Entspannungspolitik aus der Ära Willy Brandt weitgehend auf.[6]

Transatlantische Netzwerke in deutschen Medien

Krüger war im Jahr 2013 mit einer Dissertation bekannt geworden, in der er die Einbettung führenden deutscher Journalisten in transatlantische Think Tanks untersucht hatte. Dabei hatte er gezeigt, dass Top-Journalisten, darunter Stefan Kornelius, damals Leiter des außenpolitischen Ressorts der Süddeutschen Zeitung, Josef Joffe, langjähriger Mitherausgeber der Wochenzeitschrift Die Zeit, Klaus-Dieter Frankenberger, damals Leiter des außenpolitischen Ressorts der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) und der damalige Chefredakteur der Bild-Zeitung Kai Dieckmann in diversen transatlantischen Denkfabriken wie der Atlantik-Brücke, der Trilateralen Kommission oder dem Aspen Institute Mitglieder waren und zum Teil noch sind, ohne dies in ihren Zeitungen offenzulegen. Eine Frame-und Inhaltsanalyse ergab, dass die Publikationen dieser Alpha-Journalisten durchgängig den US- und Nato-freundlichen Positionen dieser Organisationen entsprachen.[7] Selbst der stellvertretende Chefredakteur der Zeit, Bernd Ulrich, räumte ein, dass die transatlantischen Netzwerke ein „Transmissionsriemen für die amerikanische Denkart in der Außenpolitik“ seien.[8]

Besonders bemerkenswert war der Fall von Jochen Bittner: Der Zeit-Journalist hatte 2013 als Teilnehmer des German Marshall Fund of the United States an einem Strategiepapier für die deutsche Sicherheitspolitik mitgewirkt, das wiederum als Grundlage einer Rede des damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck auf der Münchner Sicherheitskonferenz diente. Brisant daran war nicht allein, dass ein Journalist im Auftrag eines US-Think-Tanks die deutsche Sicherheitspolitik mitformulierte, sondern dass er Gaucks Rede anschließend in der Zeit als „Sensation“ bejubelte, ohne seine Doppelfunktion offenzulegen.[9] Die Rede forderte ein größeres militärisches Engagement Deutschlands in der Welt.

Krügers Studie erlangte deutschlandweit Bekanntheit durch ihre Verarbeitung in der Kabarettsendung Die Anstalt im Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF), die damit für eine der seltenen Sternstunden von Medienkritik im deutschen Fernsehen sorgte. Doch trotz der Wellen, die die Studie und die Sendung damals schlugen, und trotz der gescheiterten Klagen der kritisierten Journalisten, wurde die Forschung an diesem Thema nicht weitergeführt, weder an Krügers Institut noch anderswo. Auch die Medienredaktionen der großen Zeitungen und Sender haben das Thema seither nicht weiter verfolgt.

Dabei ist die Frage, ob und wie transatlantische Netzwerke die Berichterstattung beeinflussen, angesichts der Eskalationsgefahren vom Ukrainekrieg über den Nahen Osten bis China von höchster Aktualität und durchaus nicht weniger brisant als die Frage nach Einflüssen durch russische Propaganda. Zumal nicht nur Top-Journalisten mit diesen Netzwerken eng verbunden sind, sondern auch Teile der politischen Eliten, darunter die amtierende Außenministerin Annalena Baerbock (Die Grünen), die sowohl Mitglied der Atlantik-Brücke als auch ehemalige Stipendiatin des German Marshall Fund ist. Wenn Deutschland und auch Europa als Ganzes eine eigenständige Außenpolitik betreiben wollen, brauchen sie eine Öffentlichkeit, die sich einigermaßen frei von den Einflüssen der verfeindeten Großmächte in West und Ost eine Meinung bilden und politische Prozesse gestalten kann.

Mit dem Strom schwimmen: ein gefährliches Geschäft

Die Einbettung in Elitennetzwerke ist jedoch bei weitem nicht die einzige Ursache für potentielle Verzerrungen in der Berichterstattung. Sinkende Auflagen, wegbrechende Anzeigenkunden und die Konkurrenz durch schnelle Umsonst-Infos aus dem Internet haben die Medienbranche auch im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahrzehnten tiefgreifend verändert. Sabine Schiffer, Gründerin des Instituts für Medienverantwortung in Erlangen und Professorin an der Hochschule für Medien in Frankfurt am Main, weist darauf hin, dass für viele Journalisten ihre Arbeit deutlich prekärer geworden ist. Mutiges Anschwimmen gegen den Strom sei heute wesentlich schwieriger, Karriere würden vor allem Opportunisten machen.

Hinzu kommt: In der Jagd nach Klicks surfen einst renommierte Zeitungen auf Empörungswellen in sozialen Medien wie Twitter/X, um ihre Reichweite zu erhöhen. Damit verstärken sie nicht nur die Echokammern einer relativ kleinen Schicht von Influencern, die alles andere als repräsentativ für die öffentliche Meinung sind; sie verbreiten auch immer wieder ungeprüft Mutmaßungen als Tatsachen.

Diese Welle hat mittlerweile auch die öffentlich-rechtlichen Sender erreicht, die finanziell eigentlich unabhängig von Klickzahlen und Quote sind. So twitterte zum Beispiel das ZDF in der Nacht vom 15. auf den 16. November 2022: „Russische Raketen treffen polnisches Gebiet“ – obwohl zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht bekannt war, woher die Raketentrümmer, die in der ostpolnischen Kleinstadt Przewódow eingeschlagen waren, stammten. Führende deutsche Regierungspolitiker, darunter die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses Marie-Agnes Strack-Zimmermann, verbreiteten die Nachricht rasch weiter. Der NATO-Korrespondent des österreichischen Standard, der führenden „Qualitätszeitung“ des Landes, schrieb sogar: „Putin […] sucht offenbar die große Konfrontation mit Europa. Wir müssen uns auf Krieg einstellen, so unvorstellbar das auch scheint.“ Später stellte sich heraus, dass es sich um eine Rakete des ukrainischen Militärs gehandelt hatte.

Es ist bemerkenswert, mit welcher Leichtfertigkeit diese Ente verbreitet wurde, obwohl die Nachricht vom Einschlag einer russischen Rakete auf NATO-Gebiet unter Umständen einen Bündnisfall und damit einen 3. Weltkrieg auslösen könnte. Eine offizielle Entschuldigung aus den Redaktionen gab es nicht, das ZDF tauschte einfach stillschweigend die Überschrift seines Artikels aus, während die Politiker ihre Tweets löschten.[10] Die Jagd nach Aufmerksamkeit und die ideologische Brille der beteiligten Akteure hatten hier eine toxische und hochgefährliche Mischung hervorgebracht – und doch setzte auch nach diesem Vorfall keine ernsthafte Selbstreflektion ein.

Eigentumskonzentration und groupthink

Eine öffentliche Debatte über Fehlentwicklungen in den Medien kommt nicht ohne diese Medien selbst aus. Und die beschäftigen sich naturgemäß ungern mit den eigenen Fehltritten. Allerdings sollte man meinen, dass der Wettbewerb hier eine Korrekturfunktion ausübt: Die falsche oder unzulängliche Berichterstattung eines Mediums sollte eigentlich eine Steilvorlage für die Konkurrenz sein, um als Korrektiv zu wirken. Doch genau hier liegt eines der Probleme. Denn um die Vielfalt in den großen deutschen Medien ist es nicht allzu gut bestellt. Zwar hat die Eigentumskonzentration in der überregionalen Presse noch nicht die Extremformen wie etwa in Großbritannien oder den USA erreicht, doch hat auch hier über die letzten Jahrzehnte ein massiver Konzentrationsprozess stattgefunden: Im Bereich der Tagespresse werden 57 Prozent der Marktanteile von den zehn größten Medienkonzernen gehalten, bei den Zeitungen, die nicht im Abonnement sondern nur im freien Verkauf erhältlich sind, zum Beispiel Boulevardzeitungen, liegt die Konzentration sogar bei über 98 Prozent.[11] Im Bereich der Wochenzeitungen sieht es ähnlich aus, bei Publikumszeitschriften etwa sind sogar knapp 63 Prozent in der Hand von fünf Konzernen. Der Großteil dieser marktbeherrschenden Konzerne gehört wiederum in Teilen oder ganz einer kleinen Schar von Milliardären oder Fast-Milliardären, darunter die Familien Mohn (Bertelsmann/RTL/Gruner und Jahr), Springer/Döpfner (Bild, Welt u.a.), Holtzbrinck (Die Zeit, Tagesspiegel u.a.), Schaub (Medien-Union/Süddeutsche Zeitung u.a.), Burda (Focus u.a.) und Becker/Marx/Wilcke (Funke-Gruppe).[12] In über zwei Dritteln aller Landkreise und Städte hat ein einzelner Konzern sogar ein Monopol bei Tageszeitungen, so etwa in Köln, Nürnberg, Freiburg und Leipzig, dem größten Teil des Ruhrgebiets, den Landeshauptstädten Stuttgart, Hannover, Wiesbaden, Magdeburg, Mainz, Kiel und Erfurt, und sogar einem ganzen Bundesland, dem Saarland.

Zwar mischen sich Eigentümer selten in die tägliche redaktionelle Arbeit ein, aber sie bestimmen die Chefredakteure und Budgets und üben so erheblichen Einfluss auf die redaktionelle Linie aus. Dass man in einem Land, in dem die meisten Medien Milliardären gehören, wenig darüber liest, wie man deren übermäßigen Reichtum durch Steuern oder Vergesellschaftung lindern könnte, um die klammen öffentlichen Haushalte zu sanieren, ist kaum erstaunlich. Im Gegenteil: Die Süddeutsche Zeitung und Die Welt haben sich im Jahr 2002 sogar als Medienpartner der Lobbyorganisation „Stiftung Familienunternehmen“ für eine Kampagne zur Abschaffung der Erbschaftssteuer engagiert.[13] Problematisiert wird die Verquickung von Medien und Großkapitel im öffentlichen Diskurs aber so gut wie nicht.

Die Eigentumsverhältnisse sind allerdings nicht der einzige Faktor, der Meinungsvielfalt und kritische Selbstreflektion einschränkt. Die tonangebenden Medien würden, so Harald Welzer, auch wenn sie konkurrierenden Unternehmen angehören, bei bestimmten Themen immer näher zusammenrücken und eine Art Korpsgeist entwickeln, den der Sozialpsychologe Irving Janis einst als groupthink bezeichnet hatte.

Janis hatte in den frühen 1970er Jahren erforscht, wie Anpassungsdruck in Eliten zu fatalen Fehlentscheidungen führen konnte, von der gescheitertem US-Invasion in der kubanischen Schweinebucht über die Eskalation des Vietnam-Krieges bis zum Watergate Skandal.[14] Die Zugehörigkeit zu einer bestimmen in-group wird in Entscheidungssituationen höher gewichtet als klares Denken und ethische Maßstäbe. Abweichende Sichtweisen und alternative Lösungsstrategien werden als gruppengefährdend ausgeblendet und sogar bekämpft.

Diese Tendenz zum groupthink war nicht nur im Ukrainekrieg, sondern auch schon in der Coronapandemie in deutschen Medien zu beobachten. Zwar gab es einen gewissen Spielraum für Debatten, doch wurden Kritiker bestimmter Regierungsmaßnahmen wie Lockdowns, Schulschließungen und 2G-Maßnahmen von einigen führenden Medien immer wieder pauschalisierend als „Coronaleugner“, „Schwurbler“ oder „Covidioten“ abgetan, selbst wenn sie ernsthafte Argumente ins Feld führten. Der Philosoph Richard David Precht etwa wurde vom Spiegel als gefährlicher „Wirrkopf“ bezeichnet, weil er darauf hingewiesen hatte, dass die langfristigen Nebenwirkungen der neuartigen Form von Impfung angesichts von fehlenden Langzeitstudien nicht vorhersehbar seien – eine wissenschaftliche Binsenwahrheit.[15] Für Heribert Prantl, bis 2019 Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung, stellten diese Abwertungen von Kritikern einen groben Fehler und einen Missbrauch der Pressefreiheit dar. „Journalisten sollten mit Argumenten streiten, nicht mit Verbalinjurien“, so Prantl gegenüber dieser Zeitung. In dem Maße, wie abwertende Etikettierungen die Auseinandersetzung mit Argumenten verdrängten, schwand die Differenzierung in der Berichterstattung über Maßnahmenkritiker zugunsten einer binären Weltsicht, die nur gut und böse kannte.[16] Auch unverhohlen autoritäre Tendenzen wurden salonfähig. So veröffentlichte etwa die Süddeutsche Zeitung einen großangelegten Essay des Schriftstellers Thomas Brussig mit dem ganz und gar ernstgemeinten Titel „Mehr Diktatur wagen“ – für Prantl, der zugleich Jurist ist, nicht nur eine journalistische Grenzüberschreitung, sondern auch eine eindeutig verfassungswidrige Aussage.[17] Die Zeit titelte: „Eine Diskriminierung von Ungeimpften ist ethisch gerechtfertigt“[18] und der bekannte ZDF-Fernsehkabarettist Jan Böhmermann verstieg sich sogar zu dem Vergleich von ungeimpften Kindern mit Ratten, die das Virus weitertragen.[19]

Das Fazit von Heribert Prantl zur Corona-Berichterstattung: Gerade in einer Zeit, wo die Staatsgewalten von der Exekutiven über die Legislative bis zur Judikativen unisono massive Grundrechtseinschränkungen durchsetzten, hätte die vierte Gewalt der Medien als Korrektiv einschreiten müssen. Doch das war kaum der Fall.

Der Krieg in Gaza bietet ein weiteres Beispiel für eine beunruhigende Konvergenz von Massenmedien und Staatsmacht. Die eklatante Falsch-Behauptung des deutschen Kanzlers Olaf Scholz am 14. November 2023, dass sich die Regierung Netanjahu an Völkerrecht und Menschenrechte halte und alle anderslautenden Behauptungen „absurd“ seien[20], hat in den deutschen Leitmedien kaum Kritik erfahren. Daniel Bax, Redakteur der Tageszeitung Taz, zog drei Monate nach dem Hamas-Anschlag folgendes Resümee: „Viele Journalistinnen und Journalisten hierzulande verstehen sich vor allem als Hüter der Staatsräson. Sie sind mehr damit beschäftigt, abweichende Meinungen zu verurteilen, als den deutschen Schulterschluss mit Israel zu hinterfragen. Statt ihre Leserinnen und Leser zu informieren, missionieren sie. Als vierte Gewalt fallen sie aus.“[21]

Der Aufstieg der Rechten und die Marginalisierung der Medienkritik

Wann aber hat die Tendenz zum Gruppendenken in Deutschland eingesetzt und warum? Uwe Krüger hat um die Jahre 2013 bis 2015 eine deutliche Veränderung in Deutschland wahrgenommen. Habe er bis dahin bedenkenlos Kritik an grundsätzlichen Fehlentwicklungen in der Medienlandschaft geübt, so sei er seither vorsichtiger damit, was er öffentlich sagt. Der Grund: Medienkritik würde inzwischen leicht mit rechten Verschwörungstheorien in Verbindung gebracht.

Erinnern wir uns: 2013 wurde die damals rechtspopulistische, heute in Teilen rechtsextreme Partei Alternative für Deutschland (AfD) gegründet, die inzwischen laut Umfragen zweitstärkste Kraft in Deutschland ist. 2014 entstand die ebenfalls rechte Bewegung „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Pegida), die enorme Medienaufmerksamkeit erhielt, obwohl sie in der Regel kaum mehr als einige Tausend Menschen mobilisieren konnte. Die Pegida-Demonstrationen verbreiteten das Schlagwort „Lügenpresse“ – ein Begriff mit einer langen und wechselhaften Geschichte. Nach der deutschen Märzrevolution 1848 wurde er vor allem von Konservativen gegen liberale und linke Medien gebraucht, zum Teil mit antisemitischer Tendenz. Im 1. Weltkrieg wurde damit aus deutscher Sicht die Feindespresse diskreditiert, eine Tradition, die später von den Nazis weitergeführt wurde. Allerdings wurde der Begriff gleichzeitig auch von der Arbeiterbewegung benutzt, um antigewerkschaftliche Propaganda großer Medienkonzerne zu geißeln, sowie von Exilautoren zur Brandmarkung der nationalsozialistischen Presse.

In dem Maße, wie rechte Kräfte seit Beginn des 21. Jahrhunderts und verstärkt seit 2014 diesen Begriff erneut kaperten, wurde radikale Medienkritik zu einem verminten Gelände. Allzu leicht konnte man in die Nähe von rechten Verschwörungstheorien gerückt werden.

Diese Situation leistete einer fatalen Polarisierung Vorschub: Während rechte Kreise das Feld der Medienkritik immer weiter besetzen konnten, bildeten viele Leitmedien eine Art Wagenburg-Mentalität aus und immunisierten sich gegen Kritik, indem sie sich als Verteidiger der freiheitlichen Ordnung gegen den rechten Mob inszenierten. Eine grundlegende Kritik an der Funktionsweise von Massenmedien wurde zunehmend zwischen diesen Fronten zerrieben.

Rückblick: Von der Frankfurter Schule zur „geistig-moralischen Wende“

Die prekäre Lage der Medienkritik in Deutschland begann allerdings nicht erst im vergangenen Jahrzehnt. In der Nachkriegszeit bis in die 1980er Jahre blühte an zahlreichen Hochschulen eine oft marxistisch geprägte Medienanalyse, die sich mit Eigentumsverhältnissen, Ideologiekritik und den Schattenseiten der Kulturindustrie beschäftigte. Autoren der Frankfurter Schule wie Theodor Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse wirkten prägend für die Zeit. 1962 veröffentliche Jürgen Habermas seine einflussreiche Habilitationsschrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“. Seine Diagnose: Die noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts vergleichsweise offene Debattenkultur wurde mit dem Aufstieg oligopolistischer Massenmedien und der Public Relations durch eine „Refeudalisierung“ der Öffentlichkeit ersetzt.

Es war dies auch die Zeit kritischer Schriftsteller, die nicht davor zurückschreckten, sich mit großen Medienkonzernen anzulegen. Zum Beispiel der Nobelpreisträger Heinrich Böll, der mit seinem Bestseller-Roman „Die verlorene Ehre der Katarina Blum“ (1974) die Machenschaften von Boulevardmedien wie der Bild-Zeitung frontal angriff und im Gegenzug von ihnen als Terrorsympathisant denunziert wurde.

Die Kritik beschränkte sich aber nicht auf den Boulevard allein. Hans-Magnus Enzensberger etwa hatte bereits 1957 in einem Radio-Essay den „Jargon“ und die „Masche“ des renommierten Nachrichtenmagazins Der Spiegel dekonstruiert: Um aus allem eine Story zu machen, also eine personalisierte und emotionsgeladene Geschichte, müsse der Spiegel, so Enzensberger, „die Fakten interpretieren, anordnen, modeln, arrangieren, aber er darf es nicht zugeben, nicht Farbe bekennen. (…) Ich kenne keine Publikation, die es in der Technik der Suggestion, des Durchblickenlassens, der Insinuation weitergebracht hätte als Der Spiegel. Die Wahrheit wird durch diese Technik allerdings nicht aufgehellt, sondern vielmehr paralysiert.“ Diese vernichtende Kritik druckte der Spiegel immerhin selbst ab – ein Vorgang der Selbstreflektion, für den man heute meist vergeblich nach Parallelen sucht.

Später, in der 1968er-Zeit, gingen dann Zehntausende Studierende auf die Straße, um gegen die einseitig pro-amerikanische Berichterstattung des Axel-Springer-Konzerns im Vietnam-Krieg und die Diffamierung von Kriegsgegnern zu demonstrieren. Ihre Forderung: „Springer enteignen“. Die Eigentumskonzentration im Medienbereich wurde als ein zentrales Hindernis für eine vielfältige und kritische Presse thematisiert. In dem Maße, wie allerdings absehbar wurde, dass die Forderungen nach Enteignungen keinen Erfolg hatten, verlegten sich viele Linke auf die Gründung von Alternativmedien, darunter die 1978 gegründete Tageszeitung Taz.

Doch die Zeiten sollten sich bald ändern. Mit der von Bundeskanzler Helmut Kohl propagierten „geistig-moralischer Wende“ in den 1980er Jahren wurde – inspiriert von den konservativen Regierungen unter Ronald Reagan in den USA und Margaret Thatcher in Großbritannien –, begonnen, emanzipatorische Medienkritik zurückzudrängen. Exemplarisch steht dafür die Art und Weise, wie die damals im Bereich Medienkritik führende kommunikationswissenschaftliche Fakultät der Freien Universität Berlin „umgepolt“ wurde. Auf Helmut Kohls Initiative wurde eine Expertenkommission unter Führung der Kommunikationswissenschaftlerin Elisabeth Noelle-Neumann einberufen, die dafür sorgte, dass frei gewordene Lehrstühle nicht mehr mit linken Professoren besetzt wurden. Das Pikante dabei: Noelle-Neumann war von 1940 bis 1943 Autorin der von Joseph Goebbels herausgegebenen Wochenzeitschrift Das Reich gewesen.[22]

Das neokonservative Rollback fand auch in der Medienlandschaft selbst statt. Während sich Bundeskanzler Helmut Schmidt noch dem Ausbau der Kabelnetze und der darauf aufbauenden Kommerzialisierung des Rundfunks widersetzte, trieb Helmut Hohl mithilfe des befreundeten Medienmoguls Leo Kirch die Einführung des Privatfernsehens voran, um dem nach seiner Wahrnehmung zu großen linken Einfluss im öffentlichen-rechtlichen Rundfunk etwas entgegenzusetzen. Die Etablierung der ersten Privatsender im symbolisch sinnfälligen Jahr 1984 gab schließlich dem privaten Kapital erheblich mehr Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung und setzte die öffentlich-rechtlichen Medien einem Anpassungsdruck aus, der schließlich zu einer schleichenden Boulevardisierung von ARD und ZDF führte. Kritische Dokumentarfilme und investigative Formate etwa wurden nach und nach in der Sendezeit beschnitten, ins Spätprogramm und schließlich auf Arte ausgelagert, das wesentlich weniger Zuschauer hat – zugunsten von Talkshows, Krimis und Sport. Dabei steht in den Rundfunkstaatsverträgen, welche die Grundlage des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland bilden, nichts von Einschaltquoten, wohl aber von einem Bildungsauftrag. Dem aber werden sie immer weniger gerecht, wie die Initiative von Kommunikationswissenschaftlern für einen „Publikumsrat“ und eine Reform des öffentlichen Rundfunks beklagt.[23]

Für Harald Welzer hat der neoliberale Umbau der Gesellschaft seit den 1980er Jahren zu einem Niedergang des kritischen Denkens insgesamt geführt. In Medien, Parteien und sogar vielen Hochschulen herrsche inzwischen eine „vollkommene Theorielosigkeit in der Betrachtung der Gegenwart“. Insbesondere fehle es an einer Ideologiekritik, die in der Lage ist, materielle und machtpolitische Interessen hinter rhetorischen Masken sichtbar zu machen. Damit aber seien auch die Fundamente einer strukturellen Medienkritik erodiert.

Nichtsdestotrotz, so Sabine Schiffer, gebe es in der deutschen Zivilgesellschaft noch immer ein breites Spektrum qualifizierter Medienkritik. Das Problem sei heute nicht so sehr, dass sich die seriöse Medienkritik insgesamt verabschiedet habe, sondern dass sie von den tonangebenden Medien ausgeblendet werde. Ihr Fazit: „Wenn man die konstruktiven Kräfte der Medienkritik ignoriert, wird man die destruktiven ernten.“


[1] https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/mitarbeiter-fordern-neuen-oeffentlich-rechtlichen-rundfunk-in-manifest-li.2202040

[2] https://www.djv.de/startseite/service/blogs-und-intranet/djv-blog/detail/news-nah-am-randhttps://taz.de/Manifest-fuer-einen-neuen-OeRR/!6002657/

[3] Harald Welzer, Leo Keller: Die veröffentlichte Meinung. Eine Inhaltsanalyse der deutschen Medienberichterstattung zum Ukrainekrieg, https://www.fischerverlage.de/magazin/neue-rundschau/die-veroeffentlichte-meinung. Als es im Frühjahr 2022 um die Frage ging, ob Deutschland schwere Waffen an die Ukraine liefern sollte, waren laut ARD Deutschlandtrend 45 Prozent dafür und 45 Prozent dagegen: https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend/deutschlandtrend-3313.html. Im März 2023 sagten 53 Prozent der Deutschen, dass Ihnen diplomatische Bemühungen zur Beendigung des Krieges nicht weit genug gehen. https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend/deutschlandtrend-3313.html.

[4] Langzeitstudie der Universität Mainz: https://medienvertrauen.uni-mainz.de/forschungsergebnisse-der-welle-2022/

[5] Christine Eilders, Albrecht Lüter: Gab es eine Gegenöffentlichkeit während des Kosovo-Krieges? Eine vergleichende Analyse der Deutungsrahmen im deutschen Mediendiskurs, in: Ulrich Albrecht u. Jörg Becker (Hg.), Medien zwischen Krieg und Frieden, Baden-Baden: Nomos 2002. Adrian Pohr: Indexing im Einsatz. Eine Inhaltsanalyse der Kommentare überregionaler Tageszeitungen in Deutschland zum Afghanistankrieg 2001, in: Medien und Kommunikationswissenschaft, 2-3, 2005.

[6] Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil etwa sagte, dass die zentrale Maxime der SPD-Außenpolitik, Sicherheit und Stabilität in Europa könne es nur mit und nicht gegen Russland geben, keinen Bestand mehr habe: „Heute geht es darum, Sicherheit vor Russland zu organisieren.“ https://www.tagesschau.de/inland/klingbeil-spd-russland-politik-ukraine-energie-101.html

[7] Uwe Krüger: Meinungsmacht. Der Einfluss von Eliten auf Leitmedien und Alpha-Journalisten – eine kritische Netzwerkanalyse. Herbert von Halem Verlag, Köln 2013

[8] Bernd Ulrich: Sagt uns die Wahrheit, Kiepenheuer und Witsch 2015, S. 47 f.

[9] https://www.zeit.de/2014/07/deutsche-aussenpolitik-sicherheitskonferenz. Nachdem aufgrund von Krügers Studie massive Kritik daran aufgekommen war, dass Bittner seine Doppelrolle nicht offengelegt hatte, fügte Die Zeit eine entsprechende Anmerkung nachträglich an.

[10] Bernhard Pörksen: Zündelnde Tweets und gefährliche Sätze, Zeit Online, 19.11.2022, https://www.zeit.de/gesellschaft/2022-11/twitter-kommunikation-polen-rakete-ukraine-krieg/seite-2

[11] Horst Röper: Zeitungsmarkt 2022: weniger Wettbewerb bei steigender Konzentration.

Daten zur Konzentration der Tagespresse im I. Quartal 2022. Media Perspektiven (6): 295–318. https://www.ard-media.de/fileadmin/user_upload/media-

perspektiven/pdf/2022/2206_Roeper.pdf. Zugegriffen: 02.01.2023.

[12] https://de.statista.com/infografik/19375/ranking-deutscher-medienunternehmer-nach-vermoegen/

[13] Harald Schumann: Beenden wir das Rattenrennen! Was kritischer Journalismus heute bedeutet, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2018

[14] Irving Janis: Victims of Groupthink: A Psychological Study of Foreign-Policy Decisions and Fiascoes, Houghton Mifflin, Boston 1972

[15] https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/richard-david-precht-krude-thesen-von-bestsellerautor-wer-ist-dr-wirrkopf-a-41842cd8-1824-41b9-93fe-ddd05df4b9ab

[16] Vgl. Precht/Welzer S. 84f. und 150 Eine Studie der Universität Mainz zur Berichterstattung in der Pandemie zeigt, dass eine Abwägung zwischen dem Nutzen und den negativen Folgen von Maßnahmen ausgesprochen selten war. Sogenannte „Corona-Skeptiker“ wurden nur in 1,6 % der Beiträge erwähnt, die Berichterstattung wurde von maßnahmenbefürwortenden Politikern dominiert. Siehe Marcus Maurer et al.: Einseitig, unkritisch, regierungsnah? Eine empirische Studie zur Qualität der journalistischen Berichterstattung über die Corona-Pandemie, Rudolf-Augstein Stiftung, Oktober 2021 Eine umfassende kommentierte Fallsammlung mit dem Titel „Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus“ hat der Medienjournalist Timo Rieg vorgelegt: https://www.researchgate.net/publication/368289947_Qualitatsdefizite_im_Corona-Journalismus

[17] https://www.sueddeutsche.de/kultur/corona-diktatur-thomas-brussig-1.5199495?reduced=true

[18] https://www.zeit.de/gesellschaft/2021-07/corona-impfung-pflicht-ethik-massnahmen-grundrechte

[19] ZDF Magazin Royale, 27.1.23. Siehe auch https://www.welt.de/vermischtes/article236565051/Jan-Boehmermann-Kinder-sind-schlimmer-als-Aluhut-Traeger.html

[20] Deutsche Welle am 14.11. auf Twitter: https://twitter.com/hrw_de/status/1724714789648101579

[21] Daniel Bax: Das laute Schweigen der Deutschen, Die Tageszeitung, 7.1.2024, https://taz.de/Israels-Krieg-in-Gaza/!5981361/

[22] Michael Meyen: Die (doppelte) konservative Wende der Kommunikationswissenschaft, Vortrag am 17.11.2017 auf Gründungstagung des Netzwerks Kritische Kommunikationswissenschaft in München. osthttps://www.youtube.com/watch?v=YwhCJbBWfUM

[23] http://publikumsrat.de/