Die Grünen und der neue deutsche Militarismus

Dieser Artikel erschien zuerst im Februar 2025 in französischer Sprache in Le Monde diplomatique und in englischer Sprache in The Nation. Die deutsche Fassung erschien in der Berliner Zeitung. Es folgten spanische, portugiesische, brasilianische, italienische, norwegische, türkische, serbische, bulgarische, persische, koreanische und japanische Fassungen in den jeweiligen Ausgaben von Le Monde diplomatique.

Deutschland erlebt seit der russischen Invasion in der Ukraine eine massive Militarisierung, wie es sie seit 1945 nicht mehr gegeben hat. Inzwischen mehren sich Stimmen aus Grünen, SPD und CDU, die sogar bis zu 300 Milliarden für das Militär fordern – zusätzlich zum regulären Wehretat. Auch AfD und FDP plädieren für weitere Aufrüstung. Dass die NATO-Staaten schon heute über das zehnfache Militärbudget Russlands verfügen, spielt in diesen Debatten keine Rolle.
Um die massive Aufrüstung zu finanzieren, wird der deutsche Sozialstaat, der bereits durch ein Vierteljahrhundert Kürzungspolitik massiv beschädigt wurde, weiter abgebaut, auch Klimaschutzprojekte und die Sanierung der maroden Infrastrukturen bleiben auf der Strecke, das politische System erodiert. Der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge befürchtet nach der Wahl einen „Frontalangriff auf den Wohlfahrtsstaat“.
Die Aufrüstung wird begleitet von einer tiefgreifenden Veränderung der politischen Kultur, wie sie noch vor wenigen Jahren in Deutschland undenkbar war. Wahlkampfplakate mit Verteidigungsminister Boris Pistorius in Kampfmontur mit Waffe in der Hand zeigen, wie weit sich die Sozialdemokraten von ihrer langen Tradition der Entspannungspolitik, für die Willy Brandt einst den Friedensnobelpreis erhielt, losgesagt haben.
Bemerkenswerter Weise haben sich die Grünen, die 1980 als Antikriegspartei gegründet wurden, als besonders eifrige Verfechter von Aufrüstung und Bellizismus hervorgetan, die der längst schon kriegsbereiten SPD noch Zögerlichkeit vorwerfen. Nachdem die Grünen im Bundestagswahlkampf 2021 mit großen Plakaten dafür geworben hatten, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern, befand die Außenministerin Annalena Baerbock kaum ein Jahr später in perfektem orwellschem Neusprech, dass „Waffenlieferungen helfen, Menschenleben zu retten“. Passend dazu änderte die Partei auch ihre Parteifarbe von einem pflanzlich-freundlichen Hellgrün zu einem militärischen Olivgrün. Joschka Fischer fordert sogar eine europäische Atombombe und wird dabei sekundiert von Journalistinnen wie Ulrike Herrmann von der Taz.
Während sich die Bundesregierung und insbesondere die Außenministerin im Fall der Ukraine immer wieder als Verteidiger des Völkerrechts inszenieren, haben sie sich in Bezug auf Israel von völkerrechtlichen Normen weitgehend verabschiedet und damit international massiv ins Abseits manövriert. Trotz der offensichtlichen Kriegsverbrechen Israels und der Anklage wegen Völkermord vor dem Internationalen Gerichtshof hat die Ampelkoalition unbeirrt an der militärischen, finanziellen und diplomatischen Unterstützung Israels festgehalten – wie auch die größten Oppositionsparteien CDU und AfD. Auch als Amnesty International und Human Rights Watch das Vorgehen Israels als Völkermord einstuften, hat dies weder die Außenministerin noch Wirtschaftsminister Robert Habeck, der für Rüstungsexporte zuständig ist, dazu bewogen, weitere Waffenlieferungen infrage zu stellen.
Dass sich ausgerechnet grüne Spitzenpolitiker heute als die eifrigsten Verfechter eines neuen Bellizismus profilieren, ist bemerkenswert, wenn man sich die Gründungsgeschichte dieser Partei vergegenwärtigt. Im Grundsatzprogramm von 1980 hieß es: „Ökologische Außenpolitik ist gewaltfreie Politik. (…) Gewaltfreiheit bedeutet nicht Kapitulation, sondern Sicherung des Friedens und des Lebens mit politischen Mitteln statt mit militärischen. (…) Der Ausbau einer am Leitwert Frieden ausgerichteten Zivilmacht muss mit der sofort beginnenden Auflösung der Militärblöcke, vor allem der NATO und des Warschauer Paktes einhergehen.“ Gefordert wurde auch, und zwar mitten im Kalten Krieg, der „Abbau der deutschen Rüstungsindustrie und deren Umstellung auf friedliche Produktion, z.B. auf neue Energiesysteme und Fertigungen für den Umweltschutz.“
Die bemerkenswerte Transformation der Grünen von einer Friedens- zur Kriegspartei hat eine lange Geschichte. Ein zentraler Wendepunkt war der Kosovokrieg. Die erste rot-grüne Koalition auf Bundesebene unter Kanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer gab im Frühjahr 1999 grünes Licht für die Beteiligung Deutschlands an der Bombardierung Serbiens durch die NATO – und zwar ohne Beschluss des für solche Fälle zuständigen UN-Sicherheitsrates. Damit verletzte die Regierung sowohl die UN-Charta als auch den Zwei-plus-Vier-Vertrag und das Verbot von Angriffskriegen im deutschen Grundgesetz. Fischer rechtfertigte dieses Vorgehen auf dem grünen Parteitag 1999, wo er die Delegierten auf den neuen Kriegskurs einschwor, mit den Worten: „Nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord“. Dass Fischer den Bürgerkrieg im Kosovo mit Auschwitz verglich und damit den Krieg begründete, war in der Tat „infam“, wie ein offener Brief von Holocaust-Überlebenden feststellte – und doch wirkungsvoll, der Parteitag stimmte dem Krieg zu.
Aberwitzige Hitler- und Holocaust-Vergleiche, mit denen Kriege gegen geopolitische Gegner des Westens legitimiert werden, sind seither zu einem Markenzeichen der Grünen geworden. Der ehemalige grüne Umweltminister Jürgen Trittin etwa setzte im April 2022 das Massaker von Butscha, dem nach ukrainischen Angaben mehrere hundert Zivilisten zum Opfer gefallen waren, mit den Verbrechen der SS-Einsatzgruppen in der Sowjetunion gleich, die Hunderttausende von Menschen ermordet hatten.
Wer der außenpolitischen Entwicklung der Grünen folgt, kann über die Jahrzehnte eine fortschreitende Angleichung an die Positionen der US-Neokonservativen beobachten. Dieser Prozess ist alles andere als zufällig, sind doch grüne Spitzenpolitiker seit langem umfassend eingebettet in transatlantische Think Tanks. Annalena Baerbock, deren großes Vorbild die frühere US-Außenministerin Madeleine Albright ist, war unter anderem als Fellow beim German Marshall Fund. Die meisten grünen Parteivorsitzenden der letzten 20 Jahre, darunter Claudia Roth, Cem Özdemir, Reinhard Bütikofer und Karin Göring-Eckardt waren Mitglieder der Atlantik-Brücke, einem Netzwerk von Bankern, Militärstrategen, Topjournalisten und Politikern, dessen Ziel es ist, Deutschland wirtschaftlich und militärisch noch tiefer an die USA zu binden. Omid Nouripour, bis November 2024 Parteivorsitzender, ist sogar im Vorstand der Organisation. Özdemir gehörte 2004 auch zu den Unterzeichnern eines offenen Briefes der neokonservativen US-Organisation „Project for the New American Century“, deren führende Mitglieder Donald Rumsfeld, Dick Cheney, Paul Wolfowitz und Robert Kagan den Irak-Krieg vorbereitet hatten.
Die Kooptation von Führungskräften hat sich aus der Perspektive der USA gelohnt: Die grüne Partei, die einst für die Auflösung der NATO eintrat, setzt sich nun vehement für deren Erweiterung und die Militarisierung der Außenpolitik ein. Auch bei der Konfrontation gegen China sind die Grünen inzwischen die treuesten Gefolgsleute der US-Falken. Durch die Wende der Grünen wurde auch ein tiefer Keil zwischen das den Grünen nahestehende Milieu von Umwelt- und Klimaschützern und die Friedensbewegung getrieben, deren Verbindung einst die systemkritische Stärke der Bewegung ausmachte.
Eine führende Rolle bei der transatlantischen Umpolung der Partei spielte Ralf Fücks, einst Maoist, später über zwei Jahrzehnte Vorstand der grünennahen Heinrich-Böll-Stiftung und heute Geschäftsführer des Zentrums Liberale Moderne, eines Think Tanks, der für sich in Anspruch nimmt, „liberale Demokratien“ gegen „Autokratien“ zu verteidigen, und zwar insbesondere durch Aufrüstung und Stärkung der transatlantischen Beziehungen. Zu einem großen Teil wird die nach eigenen Angaben „unabhängige Nichtregierungsorganisation“ vom deutschen Staat finanziert.
Fücks gehörte schon in den späten 1980er Jahren, zusammen mit Daniel Cohn-Bendit, zu einer Gruppierung, die daran arbeitete, die Grünen von ihren kapitalismuskritischen und pazifistischen Wurzeln abzubringen. Doch trotz aller Bemühungen beharrte die Basis in den 1990er Jahren auf einem antimilitaristischen Kurs. Noch das Programm für die Bundestagswahl 1998 betonte, dass „Militärbündnisse und nationale Armeen in eine gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung aufzulösen“ seien. Diese „muss auch die NATO ablösen und bietet die Voraussetzung für umfassende Abrüstung und die Entmachtung des militärisch-industriellen Komplexes.“ Eine NATO-Osterweiterung wurde entschieden abgelehnt. Mit dem Einzug der Grünen in die Bundesregierung und mit dem Kosovo-Krieg wurden diese Wahlversprechen jedoch umgehend beerdigt.
Im Laufe der Jahrzehnte hat sich auch die grüne Wählerschaft grundlegend verändert und unterstützte schließlich die Wende der Partei. Heute sind die einstigen Protestmilieus zu den wohlhabenden akademischen Schichten aufgestiegen und leben recht gut mit dem und dank des Systems, das sie früher kritisierten. Achtundsiebzig Prozent der grünen Wählerschaft sprechen sich für weitere Waffenlieferungen an die Ukraine aus, mehr als die Anhänger jeder anderen Partei. Doch nur neun Prozent sind bereit, Deutschland mit der Waffe in der Hand zu verteidigen – weniger als die Anhänger jeder anderen Partei. Die Ideologie des Kriegs im Namen der „westlichen Werte“ wird inzwischen akzeptiert – zumindest solange es andere sind, die dafür sterben.
In Bezug auf die Ukraine wird die Nähe der Grünen zu den außenpolitischen Positionen der Neokonservativen besonders offensichtlich. Annalena Baerbocks Bemerkung, es gehe darum, „Russland zu ruinieren“, führte Jürgen Trittin am 6. April 2022 im Bundestag weiter aus: „Wir schicken das Russland von Wladimir dem Schrecklichen zurück in die Zeit der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts!“ Die Sanktionen, so fügte er hinzu, sollten dauerhaft, also auch über die Beendigung des Kriegs hinaus gelten.
Damit wird deutlich, dass es in der Ukraine keineswegs vorrangig um die Verteidigung von Völkerrechtsprinzipien geht – die im Fall von Gaza ohnehin missachtet werden –, sondern um die Durchsetzung geopolitischer Interessen. Dazu gehören vor allem die Schwächung Russlands und der Bruch der Verbindung zwischen Russland und der EU, insbesondere Deutschland – ein Ziel, das die USA seit Jahrzehnten verfolgen. Dementsprechend haben die Grünen auch stets Bemühungen um eine diplomatische Lösung abgelehnt, und das selbst dann noch, als die Stabschefs der USA und der Ukraine längst zugegeben hatten, dass es sich um eine militärische Pattsituation handelt.
Die Kurzsichtigkeit dieser Strategie zeigt sich allerdings darin, dass dadurch Russland in die Arme Chinas getrieben wird und eine Allianz entsteht, die nicht nur die Vormachtstellung der USA, sondern auch die jahrhundertelange Dominanz des Westens im Ganzen immer weiter untergräbt. Die grün-neokonservative Außenpolitik kettet Deutschland fataler Weise an das im Niedergang begriffene US-Imperium, statt Europa als vermittelnde und friedensstiftende Kraft in einer neuen geopolitischen Realität zu positionieren. Dadurch wird Deutschland immer tiefer in einen Strudel aus ökonomischem Verfall, politischem Chaos und Doppelmoral gerissen.
Mit der zweiten Amtszeit von Donald Trump verschärft sich diese Lage noch. Statt vom transatlantischen Partner für Treue belohnt zu werden, droht Trump nun mit Zöllen gegen die EU, was den wirtschaftlichen Abstieg Deutschlands weiter beschleunigen würde. Hinzu kommt, dass Deutschland sich – auch hier den Vorgaben aus Washington folgend – immer weiter von China abkoppelt, das die Bundesregierung inzwischen als „systemischen Rivalen“ einstuft. Deutschland sieht sich damit zunehmend allein zwischen den großen Blöcken.
Für die Grünen geschieht dies alles nicht ohne Kosten. Die herben Stimmenverluste der Partei bei den Europa- und Landtagswahlen haben gezeigt, dass auch ein Teil der Wähler abtrünnig wird, und das besonders bei der Jugend. Dass im November der Vorstand der Grünen Jugend nicht nur geschlossen zurück, sondern gleich ganz aus der Partei austrat, war ein weiteres Fanal. An eine außenpolitische Kurskorrektur allerdings denkt in der grünen Führung niemand. Im Gegenteil: Robert Habeck fordert, dass Deutschland 3,5 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes für das Militär ausgibt. Das würde bedeuten, dass etwa ein Drittel des Bundeshaushalts für den umwelt- und klimaschädlichsten aller Wirtschaftssektoren aufgewendet würden.