Versucht die EU, Frieden in der Ukraine zu verhindern?

Dieser Artikel erschien am 5.4. in der Berliner Zeitung , die englische Fassung in der New Left Review, die französische in Le Vent Se Lève und spanische Fassungen in Revista Contexto und Diario Red.

Wer die EU-Politik in Bezug auf die Ukraine verfolgt, kommt aus dem Staunen kaum mehr heraus. Just in dem Moment, als Verhandlungen für einen Waffenstillstand auf den Weg gekommen sind und sich eine Entspannung zwischen Washington und Moskau abzeichnet, legt die EU dem Friedensprozess Steine in den Weg, wo sie nur kann. Der Versuch von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron etwa, NATO-Truppen in die Ukraine zu entsenden, ist anders kaum zu verstehen. Moskau hat von Anfang an klar gemacht, dass es unter keinen Umständen solche Truppen akzeptieren wird, und es ist tatsächlich eine Binsenweisheit, dass nur neutrale Truppen friedenssichernd wirken können.

Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas wendet sich seit ihrem Amtsantritt offen gegen Friedensverhandlungen. Man könne Moskau nicht trauen, Putin wolle keinen Frieden, so der Tenor. Im Dezember noch twitterte sie: „Die EU möchte, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt“. Siegfrieden also, auch wenn er angesichts der Lage an der Front vollkommen unrealistisch ist, und keine Diplomatie. Zwar wächst in EU-Kreisen inzwischen der Unmut über Kallas, weil sie mit ihrer Linie keineswegs alle EU-Regierungen repräsentiert, aber bisher ist offener Widerspruch kaum hörbar.

Die dänische Ministerpräsidentin Mette Fredriksen stützte die Position von Kallas, indem sie Anfang Februar bemerkte: „Meine Vorstellung von der Ukraine ist die gleiche wie in den letzten drei Jahren: Sie muss diesen Krieg gewinnen.“ Am 23. Februar fügte sie im dänischen Fernsehen hinzu: „Wir riskieren, dass der Frieden in der Ukraine in Wirklichkeit gefährlicher ist als der Krieg.“

Eine bemerkenswerte Aussage. Immerhin ist durch den Krieg in der Ukraine das Risiko eines Atomkriegs so hoch wie seit der Kubakrise im Jahr 1962 nicht mehr. Damals ist die Menschheit nur um Haaresbreite der nuklearen Vernichtung entkommen. Kann der Frieden wirklich gefährlicher sein?

Auch die Behauptung, dass die Ukraine den Krieg gewinnen kann, ist vollkommen realitätsfern. Schon vor Jahren haben die Generalstabschefs des Pentagon und der Ukraine öffentlich zugegeben, dass der Krieg in eine Pattsituation geraten ist und keine Seite ihn gewinnen kann. Seither hat sich die Lage für die Ukraine stetig verschlechtert, sie erleidet täglich Gebietsverluste und hat ihre Gewinne in der russischen Region Kursk fast vollständig eingebüßt. Kein seriöser Militärbeobachter kann noch davon ausgehen, dass Kiew die verlorenen Gebiete zurückerobern kann. Im Gegenteil: Jeder Tag, den der Krieg fortgesetzt wird, führt das Land näher an einen Zusammenbruch heran, opfert mehr Menschenleben und türmt noch höhere Schulden auf. Doch führende EU-Politiker weigern sich noch immer, diese Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen. Nicht nur versäumen sie es, selbst diplomatische Initiativen zu ergreifen und realistische Vorschläge zu unterbreiten, um die Ukraine vor noch Schlimmerem zu bewahren, sie torpedieren auch die laufenden Verhandlungen. 

Im Zusammenhang mit den Verhandlungen über einen partiellen Waffenstillstand im Schwarzen Meer, bei denen es auch um eine Aufhebung von Sanktionen gegen die russische Landwirtschaftsbank Rosselkhozbank geht, erklärte Anitta Hipper, Sprecherin der Europäischen Kommission für auswärtige Angelegenheiten, am 26. März: “Der bedingungslose Abzug aller russischen Streitkräfte aus dem gesamten Gebiet der Ukraine wäre eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Änderung oder Aufhebung der Sanktionen.“

Tatsächlich aber dürfte allen Beteiligten, ob in Brüssel, Washington oder Kiew, längst klar sein, dass sich Moskau niemals und schon gar nicht bedingungslos aus dem gesamten Donbass und der Krim zurückziehen wird. Die Aufhebung oder auch nur eine Änderung der Sanktionen an diese Bedingung zu knüpfen, bedeutet daher de facto, für ein zeitlich unbegrenztes Sanktionsregime einzutreten. Damit aber gibt die EU ein entscheidendes Druckmittel in den Verhandlungen aus der Hand, die Sanktionen hören auf, ein Mittel zur Beendigung des Krieges und zur Stärkung der ukrainischen Verhandlungsposition zu sein. Denn warum sollte Moskau Zugeständnisse machen ohne Aussicht auf eine Gegenleistung?

Im schlimmsten Fall könnte eine Blockade der EU die Friedensverhandlungen sogar entgleisen lassen. Da einige wichtige globale Finanzinstitutionen in der EU ansässig sind, darunter die Organisation SWIFT, die den größten Teil des internationalen Zahlungsverkehrs abwickelt, hat die EU tatsächlich gewisse Hebel in der Hand – auch wenn fraglich ist, ob sie es wagen würde,  ohne Billigung Washingtons von ihnen Gebrauch zu machen.

In all diesen Fällen zeigt sich ein paradoxes Muster: Obwohl die EU ein existentielles Interesse daran haben müsste, eine Aufrechterhaltung oder gar Ausweitung des Brandherdes vor der eigenen Haustür zu vermeiden, gießt sie Öl ins Feuer, um einen aussichtslosen Krieg fortzuführen. Damit opfert sie sowohl die eigenen oft beschworenen Sicherheitsinteressen als auch die Überlebensinteressen der Ukraine, als deren Beschützer sie sich seit Jahren inszeniert. Darüber hinaus trägt die EU weiter zu ihrer eigenen geopolitischen Isolation bei, statt sich als Vermittlerin zwischen den großen Blöcken zu positionieren ­– die einzige rationale Option angesichts ihrer geographischen Lage. Wie ist dieses irrationale Verhalten zu erklären?

Der indische Historiker Vijay Prashad vermutet, dass es den politischen Eliten der EU vor allem um die Wahrung ihres Prestiges geht. Mit anderen Worten: Zu viel politisches Kapital ist in die Erzählung eines Siegfriedens investiert worden, zu viele Menschenleben sind dieser Erzählung geopfert worden, zu viele Milliarden wurden für sie ausgegeben.

Wenn Moskau jetzt tatsächlich einem Waffenstillstand und schließlich einem Friedensvertrag zustimmt, wäre auch die Behauptung widerlegt, mit Putin könne man nicht verhandeln. Die Frage, warum die EU nicht schon im Frühjahr 2022 die weit fortgeschrittenen Friedensverhandlungen in Istanbul unterstützt hat, stünde im Raum. Hunderttausende Tote hätten vielleicht verhindert werden können, der Ukraine wären große Gebietsverluste erspart geblieben.

Vielleicht wäre es auch gar nicht nötig, in so panischer Weise aufzurüsten, wie es die EU und insbesondere Deutschland derzeit tun. Denn wenn sich zeigt, dass Russland mit diesem Krieg eher regional begrenzte Ziele verfolgt hat und keineswegs darauf aus ist, die ganze Ukraine und als Nachtisch die NATO zu verschlingen, dann könnte sich die Möglichkeit eines neuen Friedensordnung am Horizont abzeichnen – und damit die Option, durch vertrauensbildende Maßnahmen langfristig für mehr Sicherheit zu sorgen und zu Abrüstung zu gelangen.

Doch solche Aussichten stehen den apokalyptischen Bedrohungsszenarien entgegen, mit denen Grundgesetzänderungen und Hunderte Milliarden Euro für die Rüstung durch die Parlamente gepeitscht wurden. Alle EU-Regierungen, von Warschau über Berlin bis Paris, Rom, Madrid, und auch London, sowie alle großen Parteien, von den Grünen bis zur Union, haben ihren politischen Einsatz auf diese eine Karte gesetzt. Können sie deswegen jetzt nicht mehr zurück? Sind sie bereit, die Möglichkeit eines Friedens zu opfern für die Aufrechterhaltung eines gescheiterten Narrativs? Das wäre in der Tat, nach allen schweren Fehlern und Versäumnissen der letzten drei Jahre, der schwerste aller Fehler.

Tatsächlich steht inzwischen noch mehr auf dem Spiel. Mit dem Szenarium eines russischen Überfalls auf die NATO wird in der EU nicht nur die Aufrüstung legitimiert, sondern im Gegenzug auch ein Abbau des Sozialstaats, den sich Europa angesichts dieser existentiellen Bedrohung angeblich nicht mehr leisten könne. Die Financial Times fasste das Programm kurz und bündig so zusammen: „Europa muss seinen Wohlfahrtsstaat zurechtstutzen, um einen Kriegsstaat aufzubauen“. Ein zu rascher Friedensschluss könnte dieses Projekt einer militärisch forcierten Austerität ins Wanken bringen. Wer würde der Zerschlagung von öffentlichen Gesundheitsdienstleistungen, Bildung, öffentlichem Transport, Klimaschutz und Sozialleistungen noch zustimmen, wenn gar kein übermächtiger Feind mehr auf dem Vormarsch ist?

Noam Chomsky bemerkte einmal, dass die Zerschlagung des Sozialstaates zugunsten des militärisch-industriellen Komplexes ein sehr altes Projekt ist, das sich schon zu Zeiten des New Deal in den USA entwickelte. Soziale Leistungen, so Chomsky, würden den Menschen Appetit auf mehr Selbstbestimmung und demokratische Rechte machen und stünden einer autoritären Ordnung im Weg. Militärausgaben hingegen schaffen hohe Profite, ohne soziale Rechte mit sich zu bringen. Braucht die EU einen starken Feind für ein solches Projekt?

Neben diesen beiden möglichen Motiven gibt es auch noch eine weitere denkbare Erklärung für das scheinbar irrationale Verhalten der EU: die Vorbereitung einer neuen Dolchstoßlegende. Wenn die EU die Erzählung vom Siegfrieden aufrechterhält – wohlwissend, dass es dafür keinerlei realistische Grundlage gibt –, während Trump einen Kompromissfrieden aushandelt, können die US-Neokonservativen und ihre europäischen Verbündeten die Geschichte in Umlauf bringen, die Trump-Regierung sei den Ukrainern und ihren Unterstützern in den Rücken gefallen und habe die Gebietsverluste zu verantworten. Dies wiederum würde es US-Demokraten und EU-Regierungen erlauben, ihre eigenen katastrophalen Fehler unter den Teppich zu kehren und die Schuld auf den politischen Gegner zu schieben.  An Elementen dieser Erzählung wird bereits auf beiden Seiten des Atlantiks eifrig gearbeitet..

Eine solche Strategie aber ist  ausgesprochen gefährlich und destruktiv. Denn damit werden all jene Kräfte innerhalb und außerhalb der Ukraine Nahrung bekommen, die einen Frieden untergraben wollen und die Fantasie anheizen, mit mehr Waffen und fortgesetztem Krieg seien die Verluste revidierbar. Für die Ukraine könnte das den Weg in einen Bürgerkrieg wahrscheinlicher machen, für ganz Europa würde es mehr Instabilität und das Risiko einer erneuten Konfrontation mit Moskau bedeuten.

Wenn den Europäern tatsächlich ihre eigene Sicherheit und auch die der Ukrainer am Herzen liegt, dann besteht die einzige vernünftige Alternative in Ehrlichkeit. Die westlichen Strategien in der Ukraine sind gescheitert. Eine ausschließliche Konzentration auf Waffenlieferungen und die Verweigerung von Diplomatie haben sich als Irrweg herausgestellt. Die EU muss die Realitäten anerkennen und versuchen, das Beste aus einer schlechten Lage zu machen und Schlimmeres zu verhüten. Und das bedeutet: sich aktiv mit konstruktiven Vorschlägen in der Friedensprozess einbringen statt ihn von der Seitenlinie zu torpedieren.